Bundes­teilhabe­gesetz: Die Umsetzung eines umfassenden Gesetzespakets

Das Bundes­teilhabe­gesetz (kurz: BTHG) entwickelt das nationale Behinderten­recht der Bundes­republik Deutschland im Einklang mit der UN-Behinderten­rechts­konvention (UN-BRK) weiter. Es zielt darauf ab, die Lebens­situation von Menschen mit Behinderungen im Land zu verbessern. Der ausführliche Name des Gesetzes lautet: „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbst­bestimmung von Menschen mit Behinderungen“. Es ist ein umfassendes Gesetzes­paket, welches sich auf die Stärkung der Teilhabe sowie der Selbst­bestimmung von Menschen mit Behinderungen konzentriert.


Das BTHG

Das BTHG verfolgt
insbesondere folgende Ziele:

  • Die Gleich­berechtigte, volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen, gesell­schaftlichen und kulturellen Leben.
  • Personen­zentrierung: Zum 1.1.2020 müssen Leistungen der Eingliederungs­hilfe personen­zentriert für die Leistungs­berechtigten bereitgestellt werden. Grund hierfür ist die Herauslösung der Eingliederungs­hilfe aus dem System der Sozialhilfe. Die leistungs­berechtigte Person steht demnach im Mittelpunkt, d.h. die Leistungs­erbringung erfolgt nach individuellen Bedarfen und ist grundsätzlich nicht abhängig vom Ort und der Art der Unterbringung.
  • Selbst­bestimmung: Die leistungs­berechtigte Person soll zu einer möglichst selbst­bestimmten Lebens­führung befähigt werden. Dazu gehört auch möglichst selbst­ständig Entscheidungen darüber zu treffen, wie und wo sie leben möchte. Dies bezieht sich nicht nur auf die Entscheidung, in welcher Wohnform ich leben möchte, sondern auch auf alltägliche Frage­stellungen wie z.B. Was esse ich zu Abend? Mit wem verbringe ich das Wochen­ende?
  • Von der Betreuung zur Assistenz: Der Begriff Assistenz soll in Abgrenzung zum Begriff der Betreuung ein verändertes Verständnis von professioneller Hilfe zum Ausdruck bringen, wodurch die Beziehung zwischen Leistungs­erbringer und leistungs­berechtigter Person neu definiert wird. Dem neuen Assistenz­begriff liegt das Verständnis zugrunde, dass die leistungs­berechtigte Person als „Auftraggeber“ agiert. Die persönliche Assistenz soll die leistungs­berechtigte Person dabei unterstützen möglichst selbst­bestimmt am Leben in der Gesell­schaft teilhaben zu können.

Umsetzung

  • Umstellung der Leistungs­systematik: vom Bedarf zur Leistung
    In Folge der Einführung des Bundesteilhabegesetzes müssen Leistungen zukünftig personenzentrierter zur Verfügung gestellt und anders vergütet werden. Gesetzlich ist nur die Bedarfsfeststellung geregelt, jedoch nicht der Weg vom Bedarf zur vergüteten Leistung. In Folge dessen haben sich diverse Leistungserbringer, sowie der Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) verschiedene Modelle überlegt, mit denen die Brücke „vom Bedarf hin zur Leistung“ geschlossen werden sollte.

    Zunächst findet die individuelle Bedarfs­ermittlung anhand des Bedarfs­ermittlungs­instruments Baden-Württemberg (BEI-BW) statt. Die Zuständigkeit liegt beim Leistungs­träger. Gesetzlich geregelt ist, dass die Erhebung der Bedarfe anhand eines Instruments erfolgen muss, das sich an der ICF orientiert (§118 SGB IX, Instrumente der Bedarfs­ermittlung). Die Abkürzung ICF bedeutet: Inter­nationale Klassifikation der Funktions­fähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Nicht gesetzlich geregelt ist hingegen wie aus dem erhobenen Bedarf eine refinanzierte Leistung wird, die z.B. durch die Stiftung St. Franziskus erbracht wird.
     
  • Besondere Wohnform: Modell IPLP
    In der besonderen Wohnform hat sich die Stiftung St. Franziskus aus der Modellvielfalt heraus für das Modell IPLP entschieden, welches bei erwachsenen Leistungsberechtigten Anwendung findet.

    IPLP steht für „Individuelle personenbezogene Leistungspakete in der besonderen Wohnform“. Das Modell wurde von drei großen Sozialunternehmen gemeinsam entwickelt: Johannes-Diakonie Mosbach, Mariaberg e.V. und ‚Die Zieglerschen‘. IPLP schafft die Basis, Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderung individuell zu erheben und die Kosten transparent zu berechnen.

    IPLP…
    ... ist personenzentriert, zeitbasiert und systematisiert Leistungen nach Stufen und Leistungspaketen
    … orientiert sich an der ICF, baut auf den Gesamtplan auf und schlägt die Brücke vom Bedarf zur Leistung
    … berücksichtigt gemeinschaftlich erbrachte Leistungen und ermöglicht individuelle Fachleistungen
    … schafft Transparenz für alle Beteiligten

 

Für Frau Müller bedeutet IPLP folgendes:

Frau Müller lebt zusammen mit anderen Leistungs­berechtigten in einem Wohnhaus der Stiftung St. Franziskus. Alle Leistungs­berechtigten haben eine Sehbeein­trächtigung oder sind blind.

Normaler­weise schläft Frau Müller nachts und hat in dieser Zeit keinen direkten Unterstützungs­bedarf. In emotionalen Belastungssituationen kommt es jedoch vor, dass Frau Müller auch nachts auf kurzfristige Unter­stützung durch Fachkräfte angewiesen ist. Dann kann sie auf die Nachtbereitschaft zurückgreifen, die für das ganze Haus ansprechbar ist. Diese Nacht­bereitschaft ist in Leistungs­paket 0 enthalten.

Aufgrund der Blindheit ist es wichtig, dass Frau Müller jederzeit die Möglichkeit hat, einen Mitarbeiter zu erreichen, um sicher im häuslichen Umfeld der Wohnung leben zu können. Die ständige Präsenz wird über das Leistungspaket 1 abgebildet.

Ordnung in ihrem Zimmer zu halten, ist Frau Müller wichtig. Nur wenn alle Gegenstände am gewohnten Platz stehen, kann sie diese selbstständig wiederfinden. Frau Müller kocht gerne. Da sie selbst aufgrund ihrer Blindheit nicht Auto fahren kann und sich im Laden nur schwer alleine zurechtfindet, benötigt sie hierbei Unterstützung. Diese Leistungen werden über Leistungspaket 2 hinterlegt.

Frau Müller ist sehr wissbegierig, an vielem interessiert und macht gerne Ausflüge in der Region.
Am Wochenende lernt sie gerne neue Menschen in der Kneipe kennen und genießt es an Kursen der Volks­hochschule teilz­unehmen. Innerhalb der Wohnung findet sie sich gut zurecht. Sobald sie die Wohnung oder das Gelände in Heiligenbronn verlässt, benötigt sie jedoch Unter­stützung in Form einer Sehenden Begleitung. Dies wird über Leistungspaket 3 abgebildet.

Frau Müller liebt es auf Konzerte zu gehen, die Therme zu besuchen oder einen Tag lang am Bodensee abzuschalten. Hierfür benötigt Frau Müller eine Assistenz. Zum einen ist ihr Wohnort nicht gut an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen, zum anderen ist sie auf Umgebungs­informationen durch die Assistenz angewiesen. Der Leistungs­träger hat Frau Müller nach einem gemeinsamen Gespräch vier Tagesausflüge pro Jahr bewilligt. Sofern die Stiftung St. Franziskus ausreichend Personal­ressourcen aufbringen kann, begleitet sie Frau Müller vor, während und nach dem Ausflug. Diese Leistungen werden als Fachleistungs­stunden im Leistungspaket 4.

  • Reformstufe 1: ab 1. Januar 2017
    • Änderungen im Schwerbehindertenrecht
    • Verbesserungen in der Einkommens- und Vermögensberücksichtigung (SGB XII)
  • Reformstufe 2: ab 1. Januar 2018
    • Einführung des SGB IX, Teil 1 (Verfahrensrecht) und 3 (Schwerbehindertenrecht)
    • Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben in der Eingliederungshilfe
    • Einführung des Gesamtplanverfahrens der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen, dass sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) orientieren muss
  • Reformstufe 3: ab 1. Januar 2020
    • Recht der Eingliederungshilfe wird zu Teil 2 im SGB IX
    • Trennung von Fachleistungen (z.B. Assistenz beim Kochen) und Existenzsichernden Leistungen (z.B. Lebensmittel) für volljährige Leistungsberechtigte
    • Weitere Verbesserungen in der Einkommens- und Vermögensberücksichtigung
  • Reformstufe 4: ab 1. Januar 2023
    Achtung: Die entsprechende Verordnung ist noch nicht in Kraft getreten! (Stand: Februar 2023)
    • Neubestimmung des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe (§99 SGB IX)
  • Zeitwert­erhebung (Laufzeit: Frühjahr 2021 bis Oktober 2022)
    Die Umsetzung des Bundes­teilhabe­gesetzes stellt einen System­wechsel für Leistungs­berechtigte, Leistungs­erbringer und Leistungs­träger dar. Eine Veränderung besteht darin, dass neue Leistungs­systematiken in der Regel mit Zeit­korridoren arbeiten. Leistungen werden zukünftig demnach nicht mehr pauschal vergütet, sondern bedarfs­orientiert definiert und refinanziert, ganz nach dem Motto: „Jeder soll nur noch die Leistung refinanziert bekommen, die er tatsächlich erhält.“ Für die Leistungs­erbringer heißt dies: wir müssen lernen mit Zeitwerten zu arbeiten.
    Im Zeitraum Frühjahr 2021 bis Oktober 2022 haben wir in diesem Zusammen­hang drei Zeitwert­erhebungen durchgeführt, um gemeinsam mit den Mitarbeitenden der Bereiche Wohnen und Tagesstruktur (Förder- und Betreuungs­bereich und WfbM) herauszu­finden, wie viel Zeit im Alltag für welche Leistung benötigt wird, wo die Schwer­punkte der alltäglichen Leistungs­erbringung liegen und wo noch ungedeckte Bedarfe bestehen.
     
  • Neue Konzeptionen als Grundlage für neue Leistungs- und Vergütungs­vereinbarungen
    Nach §6 Abs. 1 Landes­rahmen­vertrag müssen Einrichtungen der Eingliederungs­hilfe zukünftig ihre Leistungs­angebote genau beschreiben: „Das Leistungs­angebot des Leistungs­erbringers ist auf der Grundlage seiner Konzeption nach Art, Inhalt, Umfang und Qualität darauf auszurichten, die Leistungs­berechtigten nach Maßgabe ihres Bedarfs fachlich qualifiziert zu fördern und zu unterstützen […].“
    Neukonzeptionen: Leitgedanken, Hauskonzepte, Fachkonzept Sehen, Fachkonzept Hören, Fachkonzept Taubblind
    Die Konzeptionen dienen als fachliche Grundlage für die Leistungs­vereinbarungen, die mit den Standort­landkreisen neu verhandelt werden müssen.

Die Ergänzende unabhängige Teilhabe­beratung (kurz: EUTB) ist ein Beratungs­angebot für Menschen mit Behinderung. Es arbeitet nach dem Prinzip „Eine für alle“. Das bedeutet: Die Nutzer können sich mit allen Anfragen zur Teilhabe an ihre EUTB-Beratungs­angebote vor Ort wenden. Es kommt dabei nicht darauf an, welche Teilhabe­beeinträchtigung die leistungs­berechtigte Person hat. Das Ziel ist die „Stärkung der Selbst­bestimmung von Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohter Menschen“. Die EUTB-Beratungs­stelle zeichnet sich durch zwei Besonder­heiten aus: Zum einen ist sie unabhängig, d.h. die Berater sind niemandem verpflichtet außer der Person, die sie beraten. Zum anderen findet die Beratung möglichst durch ebenfalls von Behinderung Betroffenen statt.
Weitere Informationen finden Sie unter: https://www.teilhabeberatung.de

Auch die Stiftung St. Franziskus ist Träger von EUTB-Stellen an den Standorten Rhein-Neckar-Kreis, Stuttgart und Biberach. An diesen Standorten hält die Stiftung auch Mitarbeitende mit Fachkompetenzen im Bereich der Sinnesbehinderung (Sehbehinderung, Hörbehinderung und Taubblindheit) vor.
Weitere Informationen zu den Beratungsstellen der Stiftung St. Franziskus


Weitere Informationen

Hilfreiche Links



Kontakt

Ihre Ansprechpartner in Sachen BTHG

Bei Fragen rund ums Bundes­teilhabge­gesetz und zu seiner Umsetzung bei der Stiftung St. Franziskus können Sie uns gerne eine E-Mail schreiben:

bthg(at)stiftung-st-franziskus.de

Gerne dürfen Sie sich auch persönlich an uns wenden – wir haben ein offenes Ohr für Sie:

 

Maike Ramthun
Bedarfsermittlung BTHG
Luisa Wöhrle
Ansprechpartnerin für Aufnahmeanfragen
Linda Neff
Ansprechpartnerin für sozialrechtliche Fragen zum BTHG
Daniela Haigis
Ansprechpartnerin für sozialrechtliche Fragen zum BTHG